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Das passiert, wenn Katalonien die Unabhängigkeit erklärt

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Von: Florian Naumann

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Generalstreik in Katalonien.
Generalstreik in Katalonien. © dpa

Alle Blicke ruhen auf Katalonien - die spanische Region könnte dieser Tage ihre Unabhängigkeit erklären. Wir erklären Ihnen, was dann passieren würde.

Update vom 10. Oktober 2017: Die Unabhängigkeitserklärung Kataloniens ist vorerst aufgeschoben. Stattdessen hat Regionalpräsident Carles Puigdemont zunächst zum weiteren Dialog mit Spanien aufgerufen. Am Ziel eines unabhängigen Kataloniens hält er aber fest, wie er in seiner Rede vor dem Regionalparlament in Barcelona erklärte.

Barcelona/Madrid - Europa blickt dieser Tage gespannt Richtung Nordost-Spanien. Denn in Katalonien könnten sich Dinge ereignen, die man noch vor nicht allzu langer Zeit für völlig undenkbar hielt: Ein westeuropäischer Staat könnte auf chaotische Weise zersplittern - und damit im Herzen der EU sogar eine Art Bürgerkrieg drohen.

Ob es tatsächlich so kommt, ist freilich unklar. Carles Puigdemont und Mariano Rajoy sind die Männer, bei denen derzeit alle Fäden zusammenlaufen. Dem katalanischen Regionalregierungschef Puigdemont würde es obliegen, die Unabhängigkeit Kataloniens zu erklären. Rajoy wiederum steht als spanischer Ministerpräsident in der Pflicht, der autonomiehungrigen Region die passenden Antworten zu geben. Je nachdem, was er und die konservative Minderheitsregierung in Madrid für diese passende Antwort halten: Von Gesprächsangeboten bis zu Festnahmen und erneuter Polizeigewalt ist alles denkbar.

Im Kern lässt sich die Katalonien-Krise aktuell auf zwei Fragen herunterbrechen: Wird die Region nach ihrem umstrittenen Referendum tatsächlich die Unabhängigkeit erklären? Und wie geht es weiter, wenn sich Katalonien erstmal eindeutig positioniert hat? Die wichtigsten Antworten im Überblick.

Über alle aktuellen Entwicklungen in Katalonien halten wir Sie in unserem News-Ticker auf dem Laufenden.

Erklärt Katalonien die Unabhängigkeit? Das spricht dafür:

Seit jeher fühlen sich die Katalanen nicht allzu sehr Spanien zugehörig - schließlich hat die Region eine eigenen Sprache; erst 1714 hatte sich Katalonien den Truppen des spanischen Königs Philipp V. ergeben. Im spanischen Bürgerkrieg war Katalonien eine Bastion gegen den Faschisten Francisco Franco. 

Bereits 2005 hatte das Regionalparlament eine Resolution verabschiedet, die Katalonien als „Nation“ bezeichnete. Mit dem Referendum von Ende September, in dem - bei geringer Wahlbeteiligung - 90% der Wähler für eine Unabhängigkeit stimmten, sieht die katalonische Regierung ihren Moment gekommen. Seit 2015 wird sie vom Wahlbündnis „Junts Pel Sí“, „Zusammen für ein Ja“, angeführt. Dessen Hauptziel: die Loslösung von Spanien.

Verstärkt werden die Abspaltungstendenzen durch die zuletzt explizit harte Politik der spanischen Regierung. "Wir haben die Tür zu einer Vermittlung geöffnet, wir haben 'Ja' gesagt zu so vielen Vermittlungsmöglichkeiten", sagte Puigdemont am Sonntag. "Die Tage vergehen, und wenn der spanische Staat nicht auf positive Weise reagiert, werden wir das tun, wozu wir hergekommen sind."

Die katalanische Regierung fühlt sich vom spanischen Staat also im besten Falle ignoriert. Mehr noch: Teils gewalttätige Polizei-Einsätze gegen Wahlwillige am Referendumstag haben weiteren Zorn und Trotz geschürt - Proteste von angeblich bis zu 700.000 Menschen gegen die spanische Linie in Katalonien dürften die Regierung um Puigdemont bestärkt haben. Und nicht zuletzt geht es auch um Gesichtswahrung. Puigdemont und Co. sind mit dem Ziel der Abspaltung angetreten und haben sich mit dem Referendum weit aus dem Fenster gelehnt. Nun einfach klein beizugeben, käme für die katalanische Regionalregierung einer klaren Niederlage gleich.

Erklärt Katalonien die Unabhängigkeit? Das spricht dagegen:

Allerdings erhalten die separatistisch gesinnten Katalanen auch immer mehr Gegenwind - und das von unterschiedlichsten Seiten. Am 8. Oktober demonstrierten in Barcelona mehrere hunderttausend Menschen gegen eine Unabhängigkeit. Auch die spanischen Parteien stellen sich weitgehend geschlossen gegen das Ansinnen: Die Sozialisten ergriffen Partei für die Position Rajoys, das Linksbündnis Podemos riet Puigdemont zumindest „zur Vorsicht“.

Wohl noch wesentlich gravierender ist der wachsende Widerstand von Seiten anderer EU-Staaten und aus der Wirtschaft. Kanzlerin Angela Merkel versicherte Rajoy unlängst „ihre Unterstützung für die Einheit Spaniens“. Frankreich kündigte an, eine einseitige Unabhängigkeitserklärung Kataloniens nicht anzuerkennen. Unterdessen laufen der (noch) wirtschaftsstarken Region schon jetzt die Arbeitgeber davon. Die Banken Sabadell und La Caixa sowie der Energie-Konzern Gas Natural Fenosa haben ihren Umzug in andere spanische Regionen schon verkündet. Weitere Großunternehmen könnte im Falle einer Unabhängigkeit - oder einer längeren Unklarheit - folgen.

In diesem Lichte könnte die katalonische Regionalregierung auch nach „weicheren“ Alternativen suchen. Denkbar wären etwa Verhandlungen über weitere Autonomierechte unter dem Dach des spanischen Staates - oder eine Unabhängigkeit als „Fernziel“.

Video: Erklärt Katalonien die Unabhängigkeit?

Video: Glomex

Das passiert, wenn Katalonien die Unabhängigkeit erklärt - Szenario 1: Spanien reagiert mit Härte

Angesichts der bisherigen Äußerungen Rajoys erscheint wahrscheinlich, dass Madrid mit harten Gegenmaßnahmen auf eine Unabhängigkeitserklärung Kataloniens reagieren würde. Das muss allerdings zunächst noch keine Polizei- oder Militärgewalt bedeuten. Spaniens Gesetze sehen andere Optionen vor:

Entmachtung Puigdemonts

Über den Verfassungsartikel 155, die „nukleare Option“, kann die spanische Regierung Regionen zur Ordnung rufen, wenn sie sich nicht an die Verfassung halten - und tatsächlich wäre eine Unabhängigkeitserklärung ein Verstoß gegen die Verfassung. 

Bevor Rajoy aber in die katalanische Regierung eingreifen kann, muss er diese offiziell zur Einhaltung der Gesetze mahnen. Bei weiterer Zuwiderhandlung müsste dann auch noch der spanische Senat den geplanten Gegenmaßnahmen der Zentralregierung zustimmen. Grünes Licht aus dem Senat erscheint aber recht wahrscheinlich, Rajoy hat hier eine Mehrheit. In der Folge könnte die Zentralregierung den katalanischen Behörden direkte Weisungen erteilen.

Verhaftung der katalanischen Regierungspolitiker

Eine weitere Eskalationsstufe wäre die Festnahme der Politiker der katalanischen Regionalregierung. An der Frage, wie wahrscheinlich diese Option ist, scheiden sich die Geister. „Ich halte die Gefahr, dass der katalanische Präsident verhaftet werden wird für groß, die Wahrscheinlichkeit ist höher als 50 Prozent“, sagte der katalanische Journalist José Antich unlängst der Bild-Zeitung. Andere Experten bezweifeln die Sinnhaftigkeit einer solchen Maßnahme: Puigdemont könne zum „Märtyrer“ werden, warnen sie.

Allerdings: Kataloniens Polizeichef Josep Lluís Trapero wurde bereits wegen des Vorwurfs der Volksverhetzung vor ein Gericht geladen. Die Regionalpolizei habe nicht eingegriffen, als Demonstranten Sicherheitskräfte der Zentralregierung behinderten, heißt es. Trapero drohen theoretisch bis zu 15 Jahre Haft. Spanien schreckt also nicht vor drastischen Maßnahmen zurück.

Spanien verfügt Neuwahlen

Eine vorläufige Möglichkeit zur De-Eskalation könnten Neuwahlen sein. Madrid hätte nach Ziehen des Paragrafen 155 auch diese Option. Die Wahlen könnten dann zu einer Art „echtem Referendum“ über eine Unabhängigkeit werden. An ihnen würden wohl auch jene Bürger Kataloniens teilnehmen, die dem Referendum demonstrativ ferngeblieben waren. Auch Puigdemont könnte Neuwahlen ausrufen. Der Ausgang wäre allerdings ungewiss.

Einsatz von Polizei oder Militär

Die große Frage bleibt, inwieweit die katalonischen Bürger Anweisungen aus Madrid Folge leisten würden. Gemessen an der jüngsten Regionalwahl teilt sich die Bevölkerung etwa zur Hälfte in Unabhängigkeits-Befürworter und -Gegner. Jüngst hatten die Institutionen trotz Widerstands aus Madrid das Referendum organisiert, viele Bürger nahmen Anfang Oktober auch an einem Generalstreik teil.

Sollte die katalanische Verwaltung mit Ungehorsam auf Anordnungen aus Madrid reagieren, oder es gar zu Aufständen kommen, könnte die Lage heikel werden. Der - von der Verfassung gedeckte - Einsatz des Militärs zur Wahrung von Spaniens Einheit gilt zwar als unwahrscheinlich. Podemos-Generalsekretär Pablo Iglesias warnte aber auch: "Manche reden sogar schon von militärischer Intervention. Das klingt außerirdisch - aber viele Dinge haben vor einer Woche noch außerirdisch geklungen, und jetzt geschehen sie." Tausende Bundespolizisten befinden sich bereits in Katalonien.

Das passiert, wenn Katalonien die Unabhängigkeit erklärt - Szenario 2: Spanien und Katalonien nehmen Verhandlungen auf

Seit geraumer Zeit fordert Katalonien Spanien zu Verhandlungen über eine Unabhängigkeit auf - Mariano Rajoy verharrt derzeit aber auf dem Standpunkt, Madrid führe "keine Gespräche unter Drohungen". Eine einseitige Unabhängigkeitserklärung dürfte die Fronten eher weiter verhärten.

Völlig undenkbar scheint es aber nicht, dass sich die Streithähne doch an einen Tisch setzen. Immerhin dürften beiden Seiten die Gefahren der Situation bewusst sein. Um Verhandlungen in Gang zu bringen, bräuchte es aber wohl einen Anstoß von außen: Würde etwa die EU Vermittlungen anbieten, würde sich Spanien schwer tun, diese Option auszuschlagen. Bislang will die EU allerdings nur auf Bitten der spanischen Zentralregierung tätig werden.

Wie aber könnte ein Kompromiss aussehen, der beide Seiten das Gesicht wahren lässt? Klar scheint, dass Spanien Katalonien nicht aus dem Staat entlassen wird - und dass Katalonien weitere Zugeständnisse braucht. Eine mögliche Zielmarke ist also „größtmögliche Autonomie innerhalb des Staates Spanien“. Die genaue Gestaltung wäre Aushandlungssache.

Das passiert, wenn Katalonien die Unabhängigkeit erklärt - Szenario 3: Katalonien wird tatsächlich eigenständig

Derzeit erscheint ein friedlicher, kurzfristiger Weg Kataloniens in die Eigenständigkeit schwer vorstellbar. Auszuschließen ist in der gegenwärtigen Krise aber wohl nichts. Eine Unabhängigkeit hätte weitreichende Konsequenzen:

Katalonien und die EU:

Könnte Katalonien der EU beitreten? Darauf gibt es eine zweiteilige Antwort. In der Theorie ist das - schon qua der geografischen Lage des Landes - möglich. Wirtschaftlich wäre es für alle Beteiligten wohl sogar sinnvoll. Die in Katalonien beheimateten in- und ausländischen Unternehmen könnten „normal“ weiterhandeln, womöglich würde Spanien auch von Nettozahlungen des Landes profitieren.

Praktisch gibt es aber enorm hohe Hürden für eine EU-Mitgliedschaft Kataloniens; auch abgesehen von den üblichen langwierigen Beitrittsverhandlungen. Denn Spanien könnte einen Beitritt mit seinem Veto verhindern - und es scheint denkbar, dass das Land von dieser Option Gebrauch machen würde.

Auch der Rest der Mitgliedsstaaten würde sich mit einer Aufnahme Kataloniens auf heikles Terrain begeben. Denn die spanische Region könnte zum Präzedenzfall für viele weitere separatistische Bewegungen in Europa werden. Etwa für die Flandern in Belgien, die Südtiroler in Italien, oder auch Siebenbürgen in Rumänien. Die Regierungschefs der betroffenen Länder dürften aktuell kein Interesse an einem derartigen Exempel haben.

Die katalanische Wirtschaft:

An sich gehört Katalonien zu den Filetstücken der spanischen Wirtschaft. Die Region erwirtschaftet auf 6,3 Prozent der Landesfläche rund 20 Prozent des spanischen Brutto-Inlandsprodukts. 22,5 Prozent der Spanien-Touristen entfallen auf Katalonien. Dementsprechend ist auch die Gelder-Verteilung innerhalb Spaniens ein Argument für die katalonischen Separatisten: Sie wollen ihren Wohlstand - flapsig gesprochen - nicht nach Madrid überweisen.

Paradoxerweise könnte aber just die lange ersehnte Unabhängigkeit Kataloniens Wirtschaft einen schweren Schlag versetzen. Erste Unternehmen haben schon jetzt ihren Abschied angekündigt. Weitere würden wohl folgen - vor allem, wenn Katalonien ein EU-Beitritt verwehrt bleibt. Die Zentralregierung hat bereits ein Gesetz erlassen, das die Verlegung von Firmenhauptsitzen erleichtert. Auch ausländische Firmen könnten sich abwenden. Die VW-Tochter Seat erklärte bereits, es sei ein "stabiles politisches Umfeld erforderlich, um weiterhin in Arbeitsplätze und wirtschaftlichen Zuwachs zu investieren".

Eine neue Schuldenkrise?

Problematisch könnte eine Abspaltung auch mit Blick auf Staatsschulden werden - und zwar skurrilerweise sowohl für den spanischen Staat als auch für Katalonien. Denn beide sind hoch verschuldet. Und während Spanien nach Ansicht vieler Experten die Wirtschaftskraft Kataloniens braucht, um seine Verpflichtungen bedienen zu können, stehen die Katalanen vor einem anderen Problem.

Denn ihre Region ist die meistverschuldete Spaniens. Den Gläubigern würde eine Abspaltung wohl nicht gefallen. Die Ratingagenturen Fitch und S&P haben bereits mit einer Abstufung der Kreditwürdigkeit gedroht. Und dann ist da noch dieser kleine Fakt: Auch der Zentralregierung schuldet Katalonien noch zehn Milliarden Euro. Auf Stundung dürften Puigdemont und Co. wohl kaum hoffen... 

Das tägliche Leben:

Völlig außer Frage steht auch, dass eine Unabhängigkeit einen enormen administrativen Aufwand für Katalonien bedeuten würde. Nötig wäre eine eigene Währung, eigene Behörden, Auslandsvertretungen und eventuell sogar Schullehrpläne. Auch ein Passwesen stünde auf der Agenda - mitsamt der verknüpften Frage, wer denn die katalonische Staatsbürgerschaft überhaupt bekommen solle.

In der Praxis würde eine Abspaltung Kataloniens wohl einige skurrile Blüten treiben. Bis in den Sport hinein: So würde der ruhmreiche FC Barcelona wohl künftig nicht mehr in der erfolgreichen spanischen Primera Division antreten - sondern in einer neuen katalanischen Liga. Dass dem Club von Weltrang dieser Wechsel gut tun würde, scheint fraglich. Statt dem „Clasico“ gegen Real Madrid stünden auf einmal nur noch Derbys gegen den FC Girona, Espanyol Barcelona und - größtenteils drittklassige - Gegner wie CE l‘Hospitalet oder Gimnàstic de Tarragona auf dem Programm.

fn

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