Türkei: Wie der Putschversuch das Leben Tausender Kadetten zerstörte
Der Putschversuch 2016 in der Türkei verändert das Leben vieler Militärkadetten radikal. Zwei von ihnen, die heute in Deutschland leben, sprechen über ihre Erfahrungen.
Ankara/Frankfurt - Am 15. Juli jährt sich der Putschversuch in der Türkei zum sechsten Mal. Am 15. Juli 2016 besetzten vorwiegend Militärkadetten die Bosporus-Brücke in Istanbul. Sie waren aber nur auf einer Seite, die andere Seite konnte weiterhin befahren werden. Tausende Menschen versammelten sich gleichzeitig dort, dann fielen plötzlich Schüsse. 34 Menschen kamen ums Leben.
Türkei: Hintergründe von Putschversuch unklar
Die Hintergründe zu den Geschehnissen in jener Nacht bleiben weiterhin unklar. Eine unabhängige internationale Untersuchung hat es bislang nicht gegeben. Es gibt nur die Regierungsversion, die sehr viele Fragen aufwirft. Klar ist, dass vor allem Kadetten einen hohen Preis bezahlen mussten. Im Anschluss an die Putschnacht wurden 16.409 von ihnen per Dekret entlassen, gegen 6835 Kadetten wurde Haftbefehl erlassen, 352 wurden sogar zu lebenslanger Haft verurteilt.

Präsident Recep Tayyip Erdogan wirft ihnen bis heute vor, Mitglieder einer Terrororganisation zu sein, gemeint ist aber die sogenannte Gülen-Bewegung. Erdogan stuft die Gruppe um den im US-Exil lebenden Fethullah Gülen vor, hinter dem Umsturzversuch zu stecken und stuft sie seither als Terrororganisation ein.
Türkei: Luftwaffenkommandant Abidin Ünal kommt am Putschtag zu Besuch
Einige dieser Kadetten konnten ins Exil fliehen. FR.de von IPPEN.MEDIA hat mit zwei von ihnen gesprochen. Taha Ihsan Cetin lebt seit 2019 in Deutschland und war in jener Nacht Schüler der Luftwaffe in Yalova bei Istanbul. Der 28-Jährige erzählt, dass an jenem Tag auf ihrem Stützpunkt sehr viel los war. „Der damalige Luftwaffenkommandant Abidin Ünal hatte unseren Stützpunkt besucht. Die Sportübung wurde an diesem Tag abgesagt“, so Cetin. „Später erfuhren wir, dass Ünal das angeordnet habe, damit wir nicht müde werden sollen.“
Türkei: Kadetten sollen in Abendstunden zu einer „Übung“
Gegen Abend sollen die Luftwaffen-Kadetten den Befehl bekommen haben, sich auf dem Exerzierplatz zu versammeln, um von dort auf eine Übung gebracht zu werden. „Es wurden G3-Gewehre verteilt, ohne Munition aber“, sagt Cetin. „Diejenigen, deren Namen vorgelesen wurden, mussten in die Busse einsteigen und wurden weggebracht.“ Cetin meint, er habe Glück gehabt, weil sein Name zunächst nicht aufgerufen worden sei.
Er musste aber später dennoch in einen der Busse einsteigen. „Jeder von uns hat drei Patronen für sein Gewehr bekommen.“ Bevor sein Bus abfuhr, gelang es seinem Vorgesetzten, die Schüler wieder aussteigen zu lassen. Offenbar hatte er Verdacht geschöpft. So blieb Cetin in jener Nacht auf dem Stützpunkt.

Türkei: Kadetten erfahren von Kameraden auf der Brücke von Putsch
Cetin erzählt, dass in jener Nacht mit seinen Freunden telefoniert habe, die auf die Brücke gebracht worden seien. „Sie haben uns gesagt, dass sie im Kampf seien“, so Cetin. Später erfuhren Sie, dass zwei Kadetten auf der Brücke getötet worden waren. Einem seiner Kameraden war durch den Mob sogar die Kehle durchgeschnitten worden. Die Bilder von Murat Tekin und anderer blutüberströmter Kadetten gingen damals um die Welt.
Taha Cetin und alle anderen Kadetten duften in den kommenden Tagen ihren Stützpunkt in Yalova nicht verlassen. Sie wurden in den zehn Tagen darauf verhört und später entlassen. Er fing daraufhin ein Studium der Betriebswirtschaft an der Deutsch-Türkischen Universität in Istanbul an.
Türkei: Flucht nach sieben Monaten Gefängnis
Später wurden er verhaftet und wegen Terrordelikte und Putschversuch angeklagt. 2018 wurde er ins Gefängnis von Silivri gebracht und sieben Monate später vorzeitig entlassen. In dieser Zeit entschloss er sich, aus dem Land zu fliehen. „Ich hatte Angst, weil sie auch mich zu lebenslanger Haft verurteilen könnten“, sagt der inzwischen 28-Jährige. Heute lebt Cetin in einem Flüchtlingsheim in Nordrhein-Westfalen. Der Luftwaffenkommandant Abidin Ünal befindet sich heute im Ruhestand.
Türkei: Auch Kadetten in Ankara verhaftet
Eine andere Gruppe von Kadetten aus Yalova war Tage vor dem Putsch nach Ankara gebracht worden. Dort sollten sie das Fallschirmspringen trainieren. Unter ihnen befand sich auch Ömer-Faruk Karabey. „Wir waren in der Putschnacht in einer Kaserne des Heeres und haben im Fernsehen erfahren, dass es einen Putschversuch gibt.“
Karabey erzählt, dass in jener Nacht Kampfjets im Tiefflug über die Hauptstadt geflogen sind. Später wurden Karabey und seine Kameraden in die Offiziersmesse gerufen und mussten sich dann auf dem Exerzierplatz versammeln. Alle 142 Kadetten sollten in Busse einsteigen, erzählt der ehemalige Militärschüler.

Türkei: Kadetten werden in Handschellen abgeführt
Während sie dort warteten, landeten auf ihrem Stützpunkt zwei Militär-Helikopter. Offiziere des Heeres stiegen aus. Ihre Vorgesetzten entschieden sich später, dass sie mit den Hubschraubern weggebracht werden sollten. „Wir stiegen in kleinen Gruppen in die Helikopter ein und wurden zum Luftwaffenstützpunkt Etimesgut geflogen“, erzählt Karabey.
Eine Woche mussten die Kadetten dort bleiben. Am 21. Juli hatte ein Staatsanwalt einige der Kadetten verhört und dann entschieden, die Kadetten in Gewahrsam zu nehmen. „Wir wurden in Handschellen abgeführt“, so Karabey. „Während manche von uns in eine Sporthalle gebracht wurden, mussten manche in ein Zeltlager neben dem Gefängnis von Ankara-Sincan.“
Türkei: Gerichtsverhandlung dauert weniger als eine Minute
Der damals 20-Jährige erzählt, dass er sein Polizeigewahrsam zunächst im Zelt und später in der Sporthalle verbracht habe. „Die Verhältnisse waren schrecklich. Es gab nur wenig zu essen und zu trinken. Für die Toilette musste man drei bis vier Stunden warten“, so Karabey. Nach sieben Tagen Polizeigewahrsam wurde er mit einigen anderen Kadetten dem Haftrichter vorgeführt. „Die Verhandlungen dauerten weniger als eine Minute. Er hatte Haftbefehl erlassen und wir wurden von dort ins Gefängnis gebracht“.
Auch Karabey wurden Umsturzversuch und Terrordelikte vorgeworfen. Sechseinhalb Monate später wurde er vorläufig freigelassen. In dieser Zeit floh er mit einigen Freunden zunächst nach Griechenland und später nach Deutschland. In der Türkei hätte ihm auch eine lebenslange Haftstrafe gedroht. Heute lebt der 26-Jährige in einer Flüchtlingsunterkunft in Baden-Württemberg. (Erkan Pehlivan)