Türkei: 150.000 Beamte dem sozialen Tod ausgesetzt - Betroffene Offizierin erzählt ihre Geschichte

Mindestens 150.000 Staatsdiener wurden nach dem Putschversuch in der Türkei per Dekret entlassen. Eine Betroffene erzählt exklusiv ihre Geschichte.
Ankara – Nach dem Putschversuch in der Türkei am 15. Juli 2016 ließ Präsident Recep Tayyip Erdogan rund 150.000 Beamte per Dekret aus dem Staatsdienst entlassen, viele unter ihnen wurden verhaftet. In der Türkei nennt man sie „KHK’li“, was so viel heißt wie per Dekret Entlassene. Die Betroffenen aus allen Bereichen mussten sich wegen Terrordelikten und Putschversuchs vor Gericht verantworten. Wer in den zwielichtigen Prozessen freigesprochen wurde, konnte dennoch nicht zu seiner Arbeit zurückkehren. Diese KHK’li sind dem sozialen Tod ausgesetzt.
Türkei: Nachbarn wenden sich von Betroffenen ab
Beispielhaft zeigt dies die Geschichte von Hacer Caylak, die vor ihrer Entlassung als Major in der türkischen Marine gedient hatte. Im Gespräch mit der Frankfurter Rundschau von IPPEN.MEDIA erzählt Caylak, welcher Odyssee die Betroffenen in der Türkei ausgesetzt sind. So brachen zum Beispiel die Nachbarn jeglichen Kontakt ab, nachdem sie und ihr Mann, ein Oberstleutnant der Marine, entlassen worden waren. „Als ich an einem Tag den Müll rausbringen wollte, sah mich meine Nachbarin und machte sofort die Tür zu“, so Caylak.
Nach ihren Angaben ist die Familie in der Wohnung ständig Repressionen ausgesetzt gewesen. Der Höhepunkt sei am 17. Dezember 2016 erreicht worden, als rund 15 Beamte der Antiterrorpolizei 2016 die Wohnung der Familie gestürmt hätten. „Sie durchsuchten unsere Wohnung, weil sie Beweise gegen meinen Mann suchten“, erzählt die Offizierin. „Sie nahmen nicht nur sein Handy und den Computer mit, sondern auch meins und das unserer Kinder. Auch die Tablets unserer Kinder haben die Beamten beschlagnahmt.“
Nur 13 Tage später hätten die Polizisten ihren Mann festgenommen und ins berüchtigte Silivri-Gefängnis von Istanbul gesperrt. Caylak zufolge haben die Kinder noch heute an den Folgen der Razzia zu kämpfen. „Sie fingen alle an, an ihren Fingernägeln zu knabbern“, so Caylak, „auch nachdem wir nach Deutschland geflüchtet sind“.

Türkei: Schuldirektor beschimpft Offizierin als Terroristin
In dieser Zeit zog die dreifache Mutter in eine Wohnung in Corlu, wo sie die soziale Ausgrenzung und Feindschaft der Menschen noch deutlicher kennenlernte. „Als ich meine Kinder in der Schule anmelden wollte, hatte der Direktor gemerkt, dass ich eine per Dekret Entlassene bin. Er nannte mich eine Terroristin“, so Caylak. „Mein Sohn wurde in die schlechteste Klasse gesteckt, nur um uns zu demütigen“, klagt die Mutter. Auch die Verwandten der ehemaligen Marine-Offizierin wurden von Polizisten ständig unter Druck gesetzt.
Caylaks Ehemann wurde nach sieben Monaten wieder auf freien Fuß gesetzt. In ihrer neuen Wohnung muss die Familie seitdem mit Erspartem über die Runden kommen. „Niemand wollte uns eine Arbeit geben, weil die Firmen Angst haben, selbst ins Visier der AKP-Regierung zu geraten.“ Oft hätten Unternehmer Besuch von der Polizei bekommen, weil sie solche KHK’li eingestellt haben. „Mein Mann hat deswegen schwarz gearbeitet.“
Ein Leben in Würde sei für die Familie mit drei Kindern unmöglich gewesen, „wegen der sozialen Ausgrenzung und der Gefahr, erneut ins Gefängnis zu kommen“. Kurze Zeit später entschloss sich das Ehepaar, aus dem Land zu flüchten. Heute lebt die fünfköpfige Familie in Deutschland. Ehemann Orhan arbeitet als Cloud-Architekt.
Türkei: Wie viele Menschen wurden durch Dekrete entlassen?
Die Zahl der in der Türkei durch Dekret Entlassenen wird zwar auf rund 150.000 Personen geschätzt. Fachleute gehen aber von einer höheren Zahl aus. „Nicht nur Beamte, sondern auch Behördenmitarbeiter im Angestelltenverhältnis wurden ebenfalls per Dekret entlassen“, sagt Ali Yildiz, Rechtsanwalt in Brüssel und Experte für türkisches Recht.
Önder Aytac, ehemals Professor für Rechtswissenschaften an der Polizeiakademie in Ankara, gibt zu bedenken, dass die Opferzahlen durch Dekrete mit vier bis fünf multipliziert werden müssen. „Ehepartner, Kinder und Geschwister, die die Betroffenen nicht selbst auch ausgrenzen, werden von der türkischen Gesellschaft selbst ausgegrenzt,“ so Aytac.
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Türkei: Welche Rolle spielt die „Ausnahmezustands-Kommission“?
Nach dem Putschversuch wurde in der Türkei die sogenannte Ausnahmezustands-Kommission (Türkisch: OHAL-Komisyonu) gegründet. Entlassene Staatsdiener müssen ihre Unschuld nicht nur vor Gerichten, sondern auch vor dieser umstrittenen Kommission beweisen. „Diese Kommission verzögert die Verfahren auf Jahre, sodass die KHK’li erst Jahre später ihre Anträge beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) einreichen können“, sagt Aytac. Normalerweise können entlassene Beamte schon innerhalb 60 Tagen mit ihrer Beschwerde vor türkische Gerichte gehen.
Auch wenn die Ausnahme-Kommission entscheidet, dass die Betroffenen zurück an ihren Arbeitsplatz zurückkehren können, ist die Praxis eine andere. „Polizisten, die entlassen wurden, werden dann nicht mehr als Polizisten wieder eingestellt. Sie bekommen eine neue Anstellung im Staatsdienst“, so Yildiz. (Erkan Pehlivan)