Erdogan will wichtigen Gegenkandidaten Imamoglu ausschalten
Der Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu (CHP) wurde zu einer Gefängnisstrafe und Politikverbot verurteilt. Erdogan räumt seine gefährlichen Gegner aus dem Weg.
Istanbul - Seit dem ein Strafgericht den Bürgermeister von Istanbul, Ekrem Imamoglu (CHP), am Mittwoch wegen Beleidigung von Staatsbediensteten zu mehr als zwei Jahren Haft und einem Politikverbot verurteilt hat, mehren sich die Proteste in der Türkei und im Ausland. Imamoglu hat gegen das Urteil Berufung eingelegt und darf vorerst als Bürgermeister im Amt bleiben. Der 52 Jahre alte Politiker wird bei den Wahlen 2023 als möglicher Gegenkandidat des Oppositionsbündnisses „Sechser Tisch“ von Präsident Recep Tayyip Erdogan gehandelt.
Erdogan will Kilicdaroglu als Gegenkandidat
Das Urteil sehen Kritiker als politisch motiviert an. „Hätte der Vorsitzende der CHP, Kemal Kilicdaroglu, die Mitglieder des Hohen Wahlausschusses YSK, die Mitglieder des Verfassungsgerichts und Erdogan als Idioten bezeichnet, hätte der Präsidentenpalast ihn vor Gericht gebracht und ein Politikverbot gegen ihn verhängt? Nein. Schließlich will Erdogan als Gegner Kilicdaroglu für sich haben“, sagt der Politikwissenschaftler und Türkeiexperte Prof. Savas Genc im Gespräch mit Fr.de von Ippen.MEDIA. Kilicdaroglu gilt im Gegensatz zu Imamoglu als schwacher Gegenkandidat.
CHP hat auch für die Invasion in Nordsyrien gestimmt
Ähnlich sieht es der Referent für den Nahen Osten bei der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV), Dr. Kamal Sido. „Imamoglu ist eine Gefahr für Erdogan und seine AKP. Er könnte bei den Wahlen im nächsten Jahr Erdogan stürzen und das will er nicht riskieren. Also erteilt er hier ein Politikverbot“, so Sido im Gespräch mit unserer Redaktion. Doch hier sollte man nicht die Entscheidungen der Regierungspartei AKP in den vergangenen Jahren vergessen, die auch von der CHP getragen wurden.

„Erdogan ist zweifelsohne schlimm. Aber wir vergessen hier, dass die CHP von Imamoglu ebenfalls antikurdisch ist. Sie hat im Parlament für die Aufhebung der Immunität von HDP-Abgeordneten gestimmt und auch für eine Invasion türkischer Soldaten in Nordsyrien.“ Seit 2018 steht das kurdische Afrin unter der Kontrolle des türkischen Militärs und mit ihnen verbündeten syrischen Dschihadisten. Lag der Anteil der kurdischen Bevölkerung bis 2018 in Afrin bei über 90 Prozent, so ist dieser inzwischen auf unter 30 Prozent gesunken.
Richter im Imamoglu-Prozess Mitglied im AKP-nahem Juristenverein
Das Urteil gegen Imamoglu verwundert auch den ehemaligen Richter am Kassationshof (Yargitay), Kemal Karanfil, nicht. „Der Richter, der das Urteil gegen den Istanbuler Bürgermeister gefällt hat, heißt Mehdi Komsul und gehört zu einem regierungsnahen Block von Staatsanwälten und Richtern an, der sich ´Einheit in der Justiz´ YGB (Türkisch: Yargıda Birlik Derneği) nennt. Der Block wurde 2014 gegründet, um die Kontrolle im ´Hohen Rat der Richter und Staatsanwälte“ HSYK zu übernehmen“, erzählt Karanfil im Gespräch.
Das Organ entscheidet über die Richter und Staatsanwälte in den Gerichten, und das nicht nur über ihre Entsendung, sondern auch über ihre Abberufung und Bestrafung. Den Staatsanwälten und Richtern seien unter anderem höhere Gehälter versprochen worden, erzählt Karanfil, wenn sie in das regierungsnahe Lager wechseln. Dadurch habe der Verein auch geschafft, mit seinen Mitgliedern die Mehrheit und damit die Kontrolle über den HSYK zu erlangen.
Der regierungsnahe Verein der Staatsanwälte und Richter YGB wurde als Reaktion auf den Korruptionsskandal vom Dezember 2013 gegründet. 35 Geschäftsleute aus dem Umkreis von Erdogan wurden festgenommen. Auch der Präsident der Türkei selbst geriet damals ins Visier der Ermittler. Alle Inhaftierten wurden wenige Wochen später entlassen und die ermittelnden Polizisten und Staatsanwälte vom Fall abgezogen, viele von ihnen später selbst verhaftet. Erdogan nannte die Korruptionsermittlungen von damals einen „Putschversuch“.
Imamoglu ist dritter Gegenkandidat, der aus dem Weg geräumt wurde
Sollte die Berufung von Imamoglu ins leere laufen, hat Erdogan einen weiteren Gegner aus dem Weg geräumt. Das gelang bereits beim ehemaligen Co-Vorsitzenden der pro-kurdischen HDP, Selahattin Demirtas. Der Oppositionelle wurde 2016 mit mehreren anderen kurdischen Politiker verhaftet und sitzt seither im Gefängnis. Auch die CHP-Politiker Canan Kaftancioglu wurde im Mai dieses Jahres als Gegnerin ausgeschaltet. Kaftancioglu wurde zu knapp fünf Jahren Gefängnis und Politikverbot verurteilt. Die Gefängnisstrafe muss sie vorerst aber nicht antreten. (Erkan Pehlivan)