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Entsetzen über Butscha: Harte „Probe“ für Deutschland – Scholz vor nächster „Zeitenwende“?

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Von: Florian Naumann

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Krisengespräch
Bundeskanzler Olaf Scholz und Außenministerin Annalena Baerbock beraten sich. © Michele Tantussi/Reuters/Pool/dpa

Schritt für Schritt verschärft Deutschland seinen Russland-Kurs. Das Massaker von Butscha erhöht den Druck: Harte Sanktionen sind gefordert - auch ein Schlüsselwort fällt.

Berlin/Kiew - Der Ukraine-Krieg* ist nicht nur in den Worten von Kanzler Olaf Scholz (SPD)* eine „Zeitenwende“ - sondern auch ein Drahtseilakt für die deutsche Politik: Stück für Stück rang sich die Bundesregierung zuletzt zu lange kategorisch ausgeschlossenen Schritten durch: Zu Waffenlieferungen an die Ukraine, zum Aus für Nord Stream 2.

Ob damit das Ende der Fahnenstange erreicht ist, bleibt abzuwarten. Die mutmaßlich russischen Gräueltaten von Butscha* könnten die nächste Wende herbeiführen: Kanzler, Außenministerin Annalena Baerbock und auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier verurteilten die „Verbrechen“ am Sonntag. Doch auch ein brisantes Schlüsselwort fiel aus Reihen des Bundestags: „Völkermord“. Der Druck zu weiteren Reaktionen dürfte steigen. Ein erster Schritt könnte nun doch ein Gas-Lieferstopp sein.

Butscha: Deutschland im Ukraine-Krieg vor harter „Probe“ - wie weit geht Scholz?

Peter Heilrath, Sprecher der Arbeitsgemeinschaft Europa und Frieden der bayerischen Grünen, hatte schon vor zwei Wochen vor einem heiklen Moment gewarnt: Jener, der „unser eigenes Verständnis von Menschlichkeit im Ringen mit dem Bedürfnis nach Eigenschutz und Überleben auf eine noch viel härtere Probe stellt, als bisher“. Gemeint war die Abwägung zwischen einem hochgefährlichen Eingreifen in den Krieg angesichts beinahe untolerierbaren menschlichen Leids - und dem Zurückschrecken vor der greifbaren Gefahr eines nuklearen Konflikts mit Russland* und damit eines Fanals für die gesamte Menschheit. Konkret diskutiert wurde das schmerzliche Dilemma zuletzt angesichts der ukrainischen Forderung nach einer Flugverbotszone*.

Soweit ist es freilich bei Weitem nicht: Nach wie vor gilt Olaf Scholz‘ Wort, dass eine direkte Kriegsbeteiligung der Nato ausgeschlossen ist. Doch die „Probe“ in dieser Frage gewinnt an Schwere. „Die Ermordung von Zivilisten ist ein Kriegsverbrechen“, sagte Scholz selbst am Sonntagabend in Berlin. Die Täter und die Auftraggeber der „Gräueltaten“ müssten „zur Rechenschaft gezogen werden“, betonte Deutschlands Regierungschef. Seine Minister und Parteifreunde ließen mögliche nächste Schritte durchblicken.

Russland-Embargo im Ukraine-Krieg? Druck auf die Ampel wächst nach Butscha

Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) deutete zumindest Bereitschaft für einen Gas-Lieferstopp an. „Es muss eine Reaktion geben. Solche Verbrechen dürfen nicht unbeantwortet bleiben“, sagte sie laut Vorabmeldung in der ARD-Sendung „Bericht aus Berlin“. Im Kreise der EU-Minister müsse ein Stopp der Gaslieferungen „miteinander besprochen werden“, sagte sie auf eine entsprechende Frage.

SPD-Chef Lars Klingbeil stellte einen baldigen, aber womöglich keinen sofortigen Stopp in Aussicht: „Der politische Bruch mit Wladimir Putin und seinem Regime, der ist schon längst da“, sagte Klingbeil am Sonntag am Rande einer Vorstandsklausur in Berlin. Jetzt müsse auch der ökonomische Bruch „sehr schnell kommen“. „Jetzt geht es darum, unsere Unabhängigkeit von Gas, Kohle und Öl aus Russland schnell und konsequent zu erreichen.“ Das werde Putins Regime nachhaltig finanziellen und ökonomischen Schaden zufügen.

Finanzminister Christian Lindner (FDP) kündigte auf Twitter an, dass bereits ab Montag über eine Verschärfung von Sanktionen beraten werde. Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne)* sprach sich dafür aus, Kriegsverbrecher vor den Internationalen Strafgerichtshof zu bringen. Ihr Staatsminister Tobias Lindner (Grüne) drohte Russland mit Strafverfolgung in Den Haag - „eines Tages werden die Verantwortlichen für diese Kriegsverbrechen vor ihrem Richter stehen“, twitterte er. Auch nach dem Jugoslawien-Krieg habe sich einst niemand vorstellen können, dass „Milošević, Karadžić und Mladić“ einmal vor Gericht stehen würden.

Steinmeier warf Russland ebenfalls schwere Verbrechen in der Ukraine vor. „Die von Russland verübten Kriegsverbrechen sind vor den Augen der Welt sichtbar“, erklärte Steinmeier am Sonntag in Berlin. „Die Bilder aus Butscha erschüttern mich, sie erschüttern uns zutiefst.“

Ukraine-Krieg: FDP-Politiker lässt brisantes Schlüsselwort fallen - „Das ist Völkermord“

Ein noch brisanteres Wort brachte Michael Theurer, Verkehrs-Staatssekretär und FDP-Präsidiumsmitglied, in die Debatte ein. „Was wir in der Ukraine sehen, ist nicht nur ein Völkerrechtsbruch von Putins Russland. Das ist Völkermord“, erklärte er in einem Tweet. Ein Völkermord gilt gemeinhin als legitimer Grund für ein Eingreifen in einen Krieg - Putin selbst hatte einen „Genozid“ im Donbass als Kriegsanlass genannt.

Theurer betonte auf Nachfrage eines Users eindeutig, dass eine solch weitreichende Schlussfolgerung nicht intendiert war. Deutschlands Behörden müssten Ermittlungen aufnehmen, forderte er, zugleich müsse die Unterstützung für die Ukraine intensiviert werden. Zweiteres forderten auch Kabinettsmitglieder. Wie diese neue Unterstützung aussehen könnte, blieb noch im Unklaren. Deutschland und die EU haben etwa mit einem Energie-Embargo noch einigen Spielraum - auch wenn Wirtschaftsminister Robert Habeck vor einem solchen noch vergangene Woche massiv gewarnt hatte.

Ukraine erhöht den Druck auf Deutschland: Kuleba gehen EU-Pläne nicht weit genug - Selenskyj äußert sich

Druck in diese Richtung kam am Sonntag auch aus der Ukraine. Er kenne die aktuellen Entwürfe für das geplante fünfte EU-Paket mit Strafmaßnahmen schon, erklärte Außenminister Dmytro Kuleba. Daher könne er vorhersagen, dass sie nicht ausreichten, sagte er am Sonntag in einer auf Twitter veröffentlichten Videobotschaft. Nötig seien jetzt insbesondere ein Öl-, Gas- und Kohle-Embargo gegen Russland, ein Ausschluss aller russischen Banken aus dem Banken-Kommunikationsnetzwerk Swift sowie eine Schließung aller Häfen für russische Schiffe und Waren.

Kuleba sagte außerdem, gerade angesichts der Gräueltaten an Bewohnern der ukrainischen Stadt Butscha könne es nun keine Ausreden und kein Zögern mehr geben bei Waffenlieferungen an sein Land. „Wir brauchen Waffen - jetzt!“, sagte er, und zwar besonders Flugzeuge, Panzer sowie schwere Flugabwehrsysteme. Auch Präsident Wolodymyr Selenskyj* sprach im US-Sender CBS von einem „Genozid“.

Grundsätzliche Kritik an Deutschland gab es von der ukrainischen Diplomatie: „Wenn diese außenpolitische Katastrophe der Bundesrepublik nicht aufgearbeitet wird (.) dann läuft man Gefahr, dass sich etwas Ähnliches wiederholt und dass man sich wieder in eine Abhängigkeit begibt“, sagte Ukraines Deutschland-Botschafter Andrej Melnyk im Interview der ARD-Sendung „Bericht aus Berlin“ am Sonntagabend. Melnyk meldet sich immer wieder mit teils drastisch formulierten Forderungen zu Wort* - am Sonntag attackierte er auch Steinmeier*.

Deutschland im Ukraine-Konflikt: Wie weit kann die militärische Unterstützung gehen?

Offen blieb zunächst, wie weitere militärische Unterstützung für die Ukraine aussehen könnte: Vor einer zwischenzeitlich angedachten Lieferung polnischer Kampfjets an das Land war die Nato letztlich doch zurückgeschreckt - auch wegen erneuter Drohungen einer atomaren Eskalation Russlands.

Der frühere CDU-Generalsekretär Ruprecht Polenz warnte vor allzu direkter Unterstützung: „Der militärischen Hilfe sind wegen nuklearer Eskalationsgefahren Grenzen gesetzt. Deshalb wird die Nato der Ukraine nicht mit Truppen beistehen“, twitterte er: „Umso größer die Pflicht, das Mögliche bei Waffenlieferungen und Sanktionen zu tun. Deshalb Öl- und Gasembargo sofort“. Die Union solle aufgrund der möglichen massiven Folgen für Deutschland ein Embargo mitbegleiten und -tragen, forderte er.

Butscha-Massaker: Russland weist Schuld von sich - Aufnahmen aber wohl keine Fälschung

Festzuhalten ist unterdessen auch, dass die Verantwortung für die Morde von Butscha zumindest nicht offiziell geklärt ist. Russland wies die Schuld für das Massaker an der Zivilbevölkerung von sich. „In der Zeit, in der die Siedlung unter der Kontrolle der russischen Streitkräfte stand, hat kein einziger Einwohner unter irgendwelchen Gewalttaten gelitten“, heißt es in einer am Sonntag veröffentlichten Mitteilung des russischen Verteidigungsministeriums. Die russischen Soldaten hätten den Kiewer Vorort bereits am vergangenen Mittwoch verlassen.

Die Behörde in Moskau deutete zudem an, dass die Aufnahmen gefälscht sein könnten - etwa weil einer der Menschen, die am Straßenrand liegen, in einer Videoaufnahme angeblich seine Hand bewegen soll. Das ist jedoch nach Recherchen unter anderem der dpa falsch: In dem entsprechenden Video ist keine Handbewegung zu sehen. (fn mit Material von dpa)

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