„Dann sitz ich vorm Fernseher mit geballter Faust!“ Lauterbach bekommt Breitseite von Pfleger

Anne Will möchte von Gesundheitsminister Lauterbach wissen, ob sein Ministerium einer Corona-Welle im Herbst ausreichend gewachsen ist. Ein Pfleger schlägt Alarm.
Berlin – „Was heißt denn für Sie, Herr Lauterbach, ‚Gesundheitssystem nicht überlasten’?!“ Der engagierte Intensivpfleger Ricardo Lange, der seinen 60.000 Follower bei Twitter ankündigte, Karl Lauterbach „nicht fertigmachen“ zu wollen, kann bei „Anne Will“ seinem obersten politischen Chef vor laufender Kamera mal direkt die Meinung sagen.
Lauterbach lässt ihn gewähren, doch eine argumentative Nähe will sich zwischen den beiden nicht einstellen. „Wenn das Personal weinend auf den Fluren zusammenbricht“, wirft der Pfleger, der auch von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) schon zum Gespräch geladen wurde, Lauterbach vor die Füße, „wenn Menschen aufgrund von Personalmangel sterben“, weil auf Grund der Corona-Maßnahmen beispielsweise wichtige Krebsvorsorge nicht stattfinde, zeige dies, dass das Gesundheitssystem sehr wohl bereits überlastet sei.
Nicht der einzige heikle Moment. „Bilanz der Corona-Politik – Ist Deutschland auf die nächste Welle besser vorbereitet?“: Moderatorin Anne Will fragt in ihrer aktuellen ARD-Sendung mit strengem Blick den Ist-Stand der Corona-Politik ab: Impfschutz, Schulschließungen und Lockdown, Pflegepersonal, Kommissionsbericht.
„Anne Will“ - diese Gäste diskutierten mit:
- Karl Lauterbach (SPD) - Bundesminister für Gesundheit
- Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) - Parlamentarische Geschäftsführerin und Mitglied im Gesundheitsausschuss
- Ricardo Lange - Intensivpfleger
- Christina Berndt - Wissenschaftsjournalistin, Autorin
Höhepunkt ist wohl die Debatte der beiden Protagonisten des Gesundheitswesens, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Auf der einen Seite der muskelgestählte Lange im weißen Poloshirt. Er sitzt breitbeinig im Sessel – und nimmt kein Blatt vor den Mund: „Dann sitz ich vorm Fernseher mit geballter Faust“, schildert er seine Gemütslage bei politischen Ankündigungen zur angeblichen Entlastung des Pflegepersonals.
Auf der anderen Seite der schmal gebaute Professor im Ministerialamt, wie gewohnt im dunklen Anzug. Lauterbach lässt sich durch nichts aus der Ruhe bringen, bleibt distinguiert in der Wortwahl, lässt im rheinischen Singsang die Vorwürfe an sich abperlen: „Die Lage ist mir bestens bekannt“, setzt er an; er arbeite seit Jahren an Gegenmaßnahmen. Dem Vorwurf, dass im Kranken- und Pflegesektor am Personal gespart werde - zum Nachteil der Einsatzkräfte vor Ort - setzt Lauterbach das Aus der Fallpauschalen im Pflegesektor entgegen, die auf seine „Initiative“ durchgesetzt worden sei. Das habe dazu geführt habe, dass Krankenhäuser jetzt „keinen Gewinn mehr damit machen können, wenn sie Pflegekräfte entlassen“. Lauterbach kündigt zudem ein neues Pflegeentlastungsgesetz mit Vorteilen für Kliniken und Personal an - allerdings ohne konkreter zu werden.
Anne Will (ARD): Pfleger Lange schildert Lauterbach den Klinikalltag – „Stehen mit halbem Bein im Knast“
Doch Lange ist das zu wenig: „Es ist ja gar kein Personal da!“, wettert er und gibt Einblicke in den Abrechnungsalltag der Krankenhäuser: „Die ganzen Kliniken bescheißen nämlich“, meint Lange. „Das Servicepersonal muss jetzt eine einjährige Ausbildung zum Pflegehelfer machen, damit die Kliniken sie dann als Pflegekräfte abrechnen können.“ Schon jetzt werde Personal da eingesetzt, wo es dessen Ausbildung gar nicht erlaube: „Auf der Intensivstation machen Pfleger viel mehr, als sie eigentlich dürfen“, behauptet der Pfleger, „Die stehen mit einem halben Bein im Knast“.
Als Lange noch mehr düstere Erlebnissen aus seinem Klinikalltag zu Gehör bringt, zieht Lauterbach die Notbremse: „Ich habe genau wie Sie mit Menschen gesprochen, wo Angehörige gestorben sind“, setzt der Minister an, das tue ihm „für jeden Einzelnen Leid“. Doch er verwehre sich gegen den Eindruck, „wir hätten das willkürlich gemacht“.
Anne Will lenkt jetzt das Gespräch auf den nächsten Streitpunkt: Der Abschlussbericht der Sachverständigenkommission. Der bekommt von der Süddeutsche-Wissenschaftsjournalistin Christina Berndt schon mal eine schlechte Note: „Die Dinge, die da drinstehen, wusste man schon vorher“, so ihr vernichtendes Urteil. Der Bericht sei mit „heißer Nadel gestrickt und wissenschaftlich dünn“.
Will vermutet gar provokant, dass der Bericht Instrument des FDP-geführten Justizministerium unter Marco Buschmann sei. Denn das habe in Sachen Infektionsschutzgesetz ein gewichtiges Wort mitzureden, damit das neue Gesetz, das im September auf das auslaufende alte Gesetz folgen soll, verfassungskonform bleibe. Doch Lauterbach wiegelt ab: Es sei nicht richtig, dass die Ampel „mit Maßnahmen für den Herbst gewartet“ habe.
Lauterbach bei „Anne Will“ zum Lockdown: „Den brauchen wir nicht mehr“
Auch die Parlamentarische Geschäftsführerin der FDP, Christine Aschenberg-Dugnus will den Vorwurf nicht gelten lassen und verteidigt den Expertenbericht: Der habe geschafft, „dass wir jetzt Echtzeit–Daten haben“ widerspricht sie dem Urteil der Journalistin und, dass „das Abwasser-Monitoring auf den Weg gebracht“ werde konnte. Die Methode soll Rückschlüsse auf die regionale Verbreitung des Virus ermöglichen. Die FDP-Politikerin stellt klar, welche Ergebnisse ihre Partei außerdem aus dem Bericht zieht: „Schulschließungen werden nicht mehr vorkommen.“ Das hatte Stunden zuvor auch Kanzler Scholz versprochen.
Gesundheitsminister Lauterbach geht da nicht ganz konform, will Schließungen von Schulen nicht ganz ausschließen, da man nicht wisse, „welche Varianten kommen“ werden. Er hält sie aber für „sehr, sehr unwahrscheinlich“. Auch ein erneuter Lockdown sei, „nach allem, was wir wissen“, „vollkommen unrealistisch. Den brauchen wir nicht mehr“, so Lauterbach.
Für das Infektionsschutzgesetz verspricht Lauterbach vor allem technische Verbesserung mit „besseren Daten“, und einem „Radar“, außerdem eine weitere Impfkampagne und Testverordnung. Ob er enttäuscht gewesen sei, dass er das Gesetz zur Einführung einer allgemeinen Impfpflicht nicht durchsetzen konnte, fragt Will noch. Lauterbach antwortet zurückhaltend: „Damit muss man klarkommen. Das nennt man Demokratie.“
Fazit des „Anne Will“-Talks
Der Polit-Talk liefert am Sonntagabend eine gute Übersicht über das, was coronapolitisch im Herbst folgen wird. Doch das eigentliche Problem, der Mangel an Pflegekräften, die Unzufriedenheit der Beschäftigten, blieb ohne Lösung im Raum stehen. (Verena Schulemann)