Deutscher Arzt in Schweden wertet fehlende Beschränkungen: „Für uns ist es zu spät ...“

In Schweden wurden in der Corona-Krise keine Beschränkungen verhängt. Dieser Weg wurde im Ausland kritisch verfolgt. Offenbar ist alles auf eine schnelle Herdenimmunität ausgerichtet.
- Im Vergleich zu Deutschland und vielen anderen Nationen verzichtete Schweden in der Corona-Krise auf Beschränkungen.
- Das Land aus Skandinavien scheint auf eine Herdenimmunität zu setzen.
- Ein in Schweden praktizierender deutscher Arzt gibt seine Einschätzung ab.
München - Deutschland kehrt langsam zur Normalität zurück. Doch viele fragen sich jetzt: Haben unsere Politiker mit ihren Anti-Corona-Maßnahmen übertrieben? Dabei wird immer wieder auf das Beispiel Schweden verwiesen, woanders als in anderen EU-Staaten auf drastische Maßnahmen verzichtet wurde und der Staat weitgehend auf die Vernunft der Bürger im Umgang mit den Hygienevorschriften vertraute.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO lobte diesen Kurs jetzt sogar als Vorbild für die Rückkehr zur Normalität nach dem Lockdown. Waren die Schweden im Anti-Corona-Kampf schlauer als wir?
Die tz sprach darüber mit dem deutschen Arzt Thomas Schimke, der vor 14 Jahren nach Pajala im schwedischen Lappland auswanderte. Als Chefarzt in der dortigen Krankenstation ist Schimke auch für vier Altenheime in der Region mit 6000 Einwohnern zuständig.
Corona-Krise: Todeszahl auf 100.000 Einwohner dreimal so hoch wie in Deutschland
Auch in Schweden ist inzwischen ein Abwärtstrend bei den Infizierten- und Todesfallzahlen zu vermelden. Aber mit insgesamt 2941 Corona-Toten ist die Opfer-Zahl viel höher als in den anderen skandinavischen Ländern wie Dänemark (506) oder Finnland (252) (die in etwa die Hälfte der Einwohnerzahl Schwedens haben). Auf 100.000 Einwohner gerechnet liegt die Zahl der Corona-Toten mit 28,9 mehr als dreimal so hoch wie in Deutschland mit 8,6.
Die Infiziertenzahl ist mit 23.918 wenig aussagekräftig, weil in Schweden fast nur Schwerkranke und Krankenpersonal getestet werden. Im Vergleich zu Staaten mit rigiden Ausgangssperren wie Italien oder Spanien steht Schweden aber insgesamt gut da.
Corona-Krise: Interview mit deutschem Arzt in Schweden
Was machen die Schweden anders?
Thomas Schimke: Der deutsche Weg war: Vollbremsung! Mit deutscher Gründlichkeit und ausreichenden Testmöglichkeiten. Die Schweden haben hingegen ganz sachte gebremst. Im Februar sagte unser Staatsepidemiologe Anders Tegnell noch, dass Schweden wohl nicht betroffen sein werde von der Pandemie - unser Covid-Guru sah uns nördlich des Weltuntergangs. Bis Anfang April gab es lediglich die Empfehlung, sich gründlich die Hände zu waschen* und bei Erkältungsproblemen zu Hause zu bleiben. Getestet wurde aufgrund von nicht vorhandenen Testkapazitäten nur sehr wenig, hier in Pajala fast gar nicht. Zum Beispiel sollen noch heute Angehörige, die zu Hause Covid-19-Erkrankte pflegen, trotzdem zur Arbeit gehen, selbst wenn sie im Altenheim oder im Krankenhaus arbeiten! Restaurants, Friseure, Fitnessstudios und Schulen sind geöffnet. Seit Neuestem wird aber eine Armlänge Abstand bei Kneipenbesuchen empfohlen.
Was sind die Folgen?
Schimke: Hier in Pajala gab es

beispielsweise eine - erlaubte - Party zu Ostern, die zu sehr vielen teils schweren Erkrankungen bei uns geführt hat. Es ist also nicht verwunderlich, dass wir eine hohe Durchseuchung haben. Eine Herdenimmunität herbeizuführen ist mittlerweile ein offizieller Bestandteil der staatlich epidemiologischen Strategie. Untersuchungen zeigen, dass etwa 20 Prozent der Bevölkerung Antikörper aufweisen. Leider wissen wir noch nicht viel darüber, ob das wirklich für Immunität sorgt. Wir hoffen aber… Was mich am meisten stört: Wir Ärzte sollen nicht direkt mit schwedischen Medien sprechen. Es gibt - anders als in Deutschland - zu wenig Transparenz und zu wenig Diskussion über die enormen Probleme in der Gesundheitsversorgung.
Woran fehlt es?
Schimke: Wir haben nicht genug Narkosemittel und Beatmungsschläuche, es fehlt an Personal. Die Folge: Nur noch unter 80-Jährige und gesunde über 60-Jährige kommen an die Beatmung!
Es gibt Experten, die glauben, dass Schweden dank der Herdenimmunität von einer zweiten Infektionswelle nicht so hart erwischt wird…
Schimke: Sicher kann ein langsames Einbremsen auch Vorteile gegenüber der deutschen Variante - Vollbremsung und jetzt wieder Gas geben - haben. Tatsache ist jedoch, dass die gesamte Weltwissenschaft noch sehr wenig weiß. Ich will es mal so ausdrücken: Wenn man hier beim Waldspaziergang etwas felliges Braunes zwischen den Bäumen sieht, so kann man wählen: Sich verstecken, weil es ein Braunbär sein könnte. Oder man geht gemütlich weiter Beeren suchen, weil es wohl nur ein Elch ist…
Wie gut sind Sie in der Provinz gegen die Pandemie gewappnet?
Schimke: Offiziell haben wir nur zwei Todesfälle in Pajala. Aber ich kann unmöglich wissen, inwiefern andere Todesfälle, vor allem in Altenheimen oder der häuslichen Pflege, mit Corona zusammenhängen. Bekannt sind mir etwa 50 Fälle mit schwereren Verläufen, etwa Atemnot, und einige Erkrankte, die stationär in der 150 Kilometer entfernten Klinik versorgt werden mussten. Nur ein leichter Anstieg der Infektionszahlen würde dazu führen, dass wir das machen müssen, was in Stockholm schon üblich ist: Triage*. Das heißt: Über 80-Jährige und über 60-Jährige mit zwei relevanten Vorerkrankungen können zu Gunsten von Gesünderen aussortiert werden. Dann bleibt nur die Hoffnung, dass genug Morphium vorhanden ist.
Erst in ein, zwei Jahren werden wir wirklich beurteilen können, ob der schwedische oder der deutsche Kurs gegen Corona der erfolgreichere war. Was ist Ihre Prognose?
Schimke: Ganz ehrlich glaube ich, dass es für uns in Schweden zu spät ist, auf etwas anderes zu hoffen als eine baldige Herdenimmunität. Ich gehe davon aus, dass Schweden im internationalen Vergleich deutlich mehr Todesfälle zu verzeichnen haben wird. Sorgen macht mir vor allem die Unsicherheit über Langzeitfolgen* wie Lungenerkrankungen, möglicherweise sogar bleibende Schäden. Doch man darf natürlich nicht andere Aspekte wie das Leiden der Gesellschaften unter strikten Ausgangssperren außer Acht lassen.
Ein Argument gegen den deutschen Kurs ist ja, dass wir die Todesfälle nur hinauszögern - sobald wir jetzt wieder lockern, werde die Sterberate* auf schwedisches Niveau ansteigen. Sehen Sie das auch so?
Schimke: Im Prinzip ja, doch mit mehr Zeit kann man sich auch besser ausrüsten - mit Medikamenten, Schutzausrüstung*. Zeit ist Wissen, und Wissen ist Macht im Kampf gegen einen noch weitgehend unbekannten Feind Covid-19*.
Wie Deutschland von der Politik durch die Corona-Krise manövriert wird, lesen Sie in unserem News-Ticker. Ein Arzt stand kurz vor dem Forschungs-Durchbruch in der Corona-Krise - doch dann wurde er erschossen.
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Interview: Klaus Rimpel