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Gezwungen zum Betteln und Stehlen: Sie war als Kind Zwangsarbeiterin in der Sowjetunion

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Von: Claudia Feser

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Mit dieser Karte kam sie nach Melsungen: Die gebürtige Königsbergerin Renate Bänisch wurde mit dieser Karte des DRK-Suchdienstes im Jahr 1949 gefunden. Ihre Kindheit bestand aus Angst, Arbeit und traumatischen Erlebnissen. Kürzlich hat sie die Anerkennung als zivile deutsche Zwangsarbeiterin in der Sowjetunion erhalten.
Mit dieser Karte kam sie nach Melsungen: Die gebürtige Königsbergerin Renate Bänisch wurde mit dieser Karte des DRK-Suchdienstes im Jahr 1949 gefunden. Ihre Kindheit bestand aus Angst, Arbeit und traumatischen Erlebnissen. Kürzlich hat sie die Anerkennung als zivile deutsche Zwangsarbeiterin in der Sowjetunion erhalten. © Claudia Feser

Melsungen. Die 80-jährige Renate Bänisch aus Melsungen hat als Kind Dinge sehen und erleben müssen, die sie zwar verdrängen kann, die aber in den Nächten wieder zurückkommen.

Renate Bänisch, 80, aus Melsungen hat einen Teil ihrer finanziellen Anerkennung als zivile Zwangsarbeiterin in der Sowjetunion an das DRK Melsungen gespendet. Sie wurde vom DRK-Suchdienst 1949 gefunden – und hat ein bewegendes Schicksal.

Renate Bänisch aus Melsungen ist eine lebensfrohe Dame, die gerne lacht. Selbstständig, resolut, oft mit einem Scherz auf den Lippen. Und doch hat die heute 80-Jährige als Kind Dinge sehen und erleben müssen, die sie zwar verdrängen kann, die aber in den Nächten wieder zurückkommen. Gerade jetzt, wo die Seniorin vom Bundesverwaltungsamt die offizielle Anerkennung als zivile deutsche Zwangsarbeiterin in der Sowjetunion erhalten hat. Dabei geht es ihr nicht um finanzielle Entschädigung, sondern um das Prinzip der Anerkennung. Denn ihr Schicksal teilt sie mit Tausenden Menschen.

Ab 1946 musste Renate Bänisch in ihrer Heimatstadt Königsberg für ein Stück Brot schuften und betteln, um sich einen Schlafplatz zu verdienen, jeden Tag aufs Neue. Damals war sie acht Jahre alt und mutterseelenallein. Es fällt Renate Bänisch schwer, über diese Zeit zu sprechen. Eigentlich möchte sie keine Details in der Zeitung lesen. Und doch hat diese Zeit ihr Leben geprägt.

Kindheit im Krieg

Nach dem Tod ihrer Mutter wuchs Renate Bänisch bei der Tante auf, der Vater war im Krieg. Mit der Tante und der zwei Jahre jüngeren Schwester floh sie vor der Roten Armee – zu Fuß, im großen Treck bis Danzig. Ihr Weg führte im Januar 1945 übers Frische Haff (Stichwort). Renate Bänisch erträgt es kaum, Details zu erzählen, zu schlimme Dinge hat sie als damals Siebenjährige gesehen. Nur so viel: „Es war grausam, das alles als Kind zu erleben.“ Es folgten wochenlange Bombardierungen, die sie in den Kellern von Danzig überlebte. Nach Kriegsende wollte die Tante zurück nach Königsberg, Renate und ihre kleine Schwester mussten mit, den ganzen Weg legten sie wieder zu Fuß zurück.

Kampf ums Überleben

Nach einigen Monaten starb die Tante. „Nun waren meine Schwester und ich ganz allein und für uns selbst verantwortlich.“ Sie waren damals acht und sechs Jahre alt und mussten sich selbst um eine sichere Schlafstätte und Essen kümmern.

Drei Monate später starb die kleine Schwester den Hungertod. Eine Frau ließ Renate Bänisch in ihrer Wohnung auf dem Fußboden schlafen – wenn sie genügend Brot und Lebensmittel herbeischaffte. „Ich lebte in ständiger Angst, nicht genügend beschaffen zu können und den Schlafplatz zu verlieren.“ So wurde sie zum Arbeiten, Betteln, Stehlen gezwungen.

Renate Bänisch wird eine russische Militärärztin nie vergessen, bei der sie ein-, zweimal pro Woche durch Putzarbeiten, Kinder hüten, Kohlen und Holz schleppen etwas Brot verdienen konnte. Und für eine russische Familie trug sie eine Zeit lang täglich Eimer mit Sauerkraut acht Kilometer weit zum Markt. „Lohn war Brot, das ich für meinen Schlafplatz abzuliefern hatte.“

Gesucht und gefunden

Russische Frauen erzählten ihr im Frühjahr 1948 von einem Sammeltransport der Deutschen raus aus Königsberg. Sie bekam einen Platz auf dem Lkw und verließ ihre Heimatstadt in Richtung Zwickau. Ein Jahr später kam Renate Bänisch zu einer Tante nach Lübeck – dort wurde sie dann auch vom Suchdienst des DRK gefunden. Ihre Stiefmutter hatte das Gesuch veranlasst – der Vater war nach dem Krieg in Kassel gelandet und hatte erneut geheiratet, eine Melsungerin.

Endlich Anerkennung

Wie Millionen Anderer muss Renate Bänisch mit ihrem Schicksal der geraubten, traumatisierten Kindheit leben. Verbittert ist sie nicht, ihre lebensfrohe Art lässt das nicht zu. Helfen wo immer sie kann – das ist der resoluten Dame wichtig. Denn ihr hat einst der DRK-Suchdienst geholfen, und dafür ist sie ihm sehr dankbar. Renate Bänisch mag sich kaum ausmalen, was aus ihr geworden wäre wenn sie nicht gefunden worden wäre. So konnte sie bei ihrer neuen Familie in Melsungen in ein neues, sicheres Leben starten. Und eine starke Frau werden, die gerne lacht. 

Der DRK-Suchdienst

Der DRK-Suchdienst unterstützt seit dem Deutsch-Französischen Krieg 1880/81 Menschen, die aufgrund von Vertreibung, Flucht, Katastrophen, bewaffnete Konflikte und Migration von ihren Angehörigen getrennt wurden. Dabei arbeitet er eng mit Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften weltweit zusammen. Jedes Jahr wenden sich Zehntausende mit Anfragen an den DRK-Suchdienst. 

Von 1945 bis 1950 erreichten den DRK-Suchdienst nach eigenen Angaben 14 Millionen Anfragen. 8,8 Millionen schicksalsklärende Auskünfte über nächste Angehörige wurden in dieser Zeit erteilt – eine von ihnen klärte das Schicksal von Renate Bänisch, die daraufhin zur Familie ihres Vaters nach Melsungen fand. Damals wurden Gesuche noch auf Karten geschrieben, heute sind Anfragen auch online möglich. 

Auch 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs betreffen viele der Anfragen den Verbleib von Kriegsvermissten. Die Zentrale Namenskartei mit 50 Millionen digitalisierten Karteikarten gibt Auskunft zum Verbleib von 20 Millionen Menschen, die in Deutschland durch den Zweiten Weltkrieg und seine Folgen vermisst wurden. Der Suchdienst hilft auch bei aktuellen Suchanfragen von Flüchtlingen und Migranten, die den Kontakt zu Angehörigen verloren haben. Viele Suchende in Deutschland stammen aus Syrien, Afghanistan, Eritrea und Somalia, auf dem Weg nach Europa haben sie viele Länder passiert. Deshalb ist auch hier die Zusammenarbeit mit den weltweiten Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften wichtig. 

Entschädigung für Zwangsarbeiter

Auf Beschluss des Deutschen Bundestages konnten ehemalige deutsche Zwangsarbeiter zwischen 1. August 2016 und 31. Dezember 2017 eine einmalige Entschädigung von 2500 Euro beantragen. Nach Auskunft des Bundesverwaltungsamtes waren bis Ende Juli 2018 insgesamt 47.164 Anträge eingegangen. 61 Prozent der Antragssteller sind Frauen. 90 Prozent der Antragssteller sind 80 Jahre und älter. Bislang wurden 17.915 Anträge bearbeitet, das entspricht rund 38 Prozent. 14.956 Menschen haben die Zahlung bereits erhalten. Bei 2959 Anträgen gab es eine Ablehnung oder die Einstellung des Verfahrens.
 

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