Interview mit Autorin Kirsten Boie über „Bad Hersfeld liest ein Buch“

Bad Hersfeld liest ein Buch mit dem Titel „Heul doch nicht, du lebst ja noch“.
Bad Hersfeld – Am kommenden Samstag beginnt die Literaturaktion „Bad Hersfeld liest ein Buch“. Diesmal geht es um das Buch „Heul doch nicht, du lebst ja noch“ der renommierten Kinder- und Jugendbuchautorin Kirsten Boie aus dem Jahr 2022. Sie schildert darin, wie drei Jugendliche die Zeit direkt nach dem Zweiten Weltkrieg im völlig zerbombten Hamburg erleben.
Über das Buch und das Schreiben sprach Kai A. Struthoff mit Kirsten Boie.
Frau Boie, warum haben Sie sich dafür entschieden, Bücher für Kinder und Jugendliche statt für Erwachsene zu schreiben?
Es hat sich so ergeben: Ich habe mein erstes Buch geschrieben, nachdem mein Mann und ich unser erstes Kind adoptiert hatten und ich nicht wieder arbeiten durfte. Das war damals vor fast 40 Jahren noch so, die Mutter gehörte nach Hause. Darüber war ich sehr zornig, weil ich sehr, sehr gerne Lehrerin war. Deshalb habe ich Möglichkeiten gesucht, um das Jugendamt auszutricksen. Damals ist mir dann der Anfang für mein erstes Buch eingefallen: Darin geht es, wenig verwunderlich, um ein adoptiertes Kind. Ich habe dann angefangen, das Buch zu schreiben. Zwei Verlage wollten es veröffentlichen – und damit war ich dann in der Kinderliteratur. Alles eigentlich eher zufällig.
Viele Erwachsene lesen gern Kinderbücher. Ist es wirklich so ein Unterschied, ob man für Kinder oder für ältere Leser schreibt – es ist doch beides Literatur?
Ich freue mich sehr, dass immer mehr Erwachsene Kinder- und Jugendbücher lesen. Übrigens: Zu „Heul doch nicht, du lebst ja noch“ bekomme ich viele Zuschriften von Erwachsenen, gerade auch von Zeitzeugen. Natürlich bemühe ich mich darum, literarisch anspruchsvoll zu schreiben. Aber man darf sich auch nicht belügen: Es ist nämlich nicht egal, ob man für Kinder oder Erwachsene schreibt, wenngleich das viele Schriftstellerkollegen behaupten. Aber wenn ich Kinder erreichen will, muss ich anders schreiben, als wenn ich Erwachsene anspreche.
Warum?
Erwachsene haben eine andere Lebenserfahrung und eine andere Leseerfahrung. Das muss ich beim Schreiben berücksichtigen, sonst bräuchten wir keine Kinderbücher. Ich habe beim Schreiben zwar kein bestimmtes Alter im Hinterkopf, wohl aber einen gewissen Entwicklungsstand. Reduktion ist ja zum Beispiel auch ein Qualitätsmerkmal von Literatur. Man hat im Text Leerstellen, die der Lesende mit Erinnerung und eigenen Gefühlen ausfüllen muss. Das geht bei Kindern aber nicht, da muss ich mehr erklären. Ich nenne mal ein Beispiel: Wenn ich schreibe „er schlug die Tür zu“, ergänzt der Erwachsene „weil er wütend war“. Bei einem Kind muss ich schreiben „... so böse war er“. Ich finde es richtig und wichtig, für Kinder anders zu schreiben als für Erwachsene.
Als Erwachsener finde ich Ihr Buch „Heul doch nicht, du lebst ja noch“, sehr berührend, zuweilen auch traurig und vor allem erschreckend aktuell ...
... was ich allerdings nicht wissen konnte, als ich das Buch geschrieben habe.
Sie sind zu jung, um die Nachkriegszeit selbst erlebt zu haben. Wie sind Sie also auf die Idee für das Buch gekommen?
Dieses Thema hat mich mein Leben lang begleitet. Meine Mutter, meine Tanten, Onkel und andere Erwachsene haben in den 1950er Jahren, als ich ein Kind war, ständig davon erzählt. Es war die dramatischste Zeit ihres Lebens, die sie natürlich bewältigen mussten, indem sie erzählten. Das war das Hintergrundrauschen meiner Kindheit. Ich selbst habe früher noch auf Trümmergrundstücken gespielt, das war ganz normal. Und wir hatten auch kriegsversehrte Lehrer mit Verbrennungen und amputierten Gliedmaßen. All das hat mich geprägt.
Aber warum haben Sie dann jetzt erst das Buch geschrieben?
Zum 75. Jahrestag des Kriegsendes gingen viele Bilder durch die Medien. Und es hatte sich etwas verändert: Plötzlich wurde auch über die Belastungen für die Deutschen in dieser Zeit berichtet. Das war früher kaum möglich, denn lange galt das Narrativ: Die Deutschen haben den Krieg begonnen, sie sind schuld. Wir reden darüber, was sie den anderen angetan haben – und das ist auch richtig und nötig. Aber natürlich haben auch die Deutschen selbst im Krieg gelitten. Ich halte es für wichtig, auch das zu erzählen. Gerade jenen Jugendlichen, die heute wieder anfangen, den Nationalsozialismus zu bewundern. Denn viele junge Leute wissen leider sehr wenig über diese Zeit.
In Bad Hersfeld werden sich in den nächsten Wochen Hunderte junge, aber auch ältere Leute in Schulen, Leserzirkeln, Kirchen mit Ihrem Buch beschäftigen. Was ist das für ein Gefühl für eine Autorin, dass eine ganz Stadt ihr Buch liest?
Das ist einfach unglaublich schön! Deshalb schreiben wir doch. Weil wir Menschen erreichen wollen. Jugendliche natürlich, aber ich merke an der Post von Menschen, die sogar noch zehn, fünfzehn Jahre älter sind als ich, wie sehr sie das Erlebte auch heute noch aufwühlt und berührt. Viele schreiben mir von ihren eigenen Erfahrungen, die sich mit der Erzählung in meinem Buch decken. Ich merke, wie wichtig es für diese Menschen ist, über ihre Erinnerungen zu sprechen. Ich hoffe, dass dieser Dialog auch in Bad Hersfeld möglich sein wird. Ich habe mich jedenfalls sehr darüber gefreut, dass mein Buch ausgewählt wurde für die Literaturaktion.
Sie haben in einem Interview Astrid Lindgren und Enid Blyton als für Sie wichtige Jugendbuchautorinnen bezeichnet. Promoviert haben Sie aber über Bertolt Brecht. Was lesen Sie heute privat?
Schon meist Erwachsenenliteratur. Dabei bin ich unheimlich breit aufgestellt. Bücher, die im Feuilleton besprochen werden. Gern auch amerikanische Gegenwartsliteratur. Außerdem interessiere ich mich für afrikanische Literatur, weil meine Möwenweg-Stiftung seit 15 Jahren ein Kinderhilfsprojekt im Süden Afrikas hat. Die Literatur dort ist gerade erst im Entstehen. Ich lese auch sehr gerne Krimis – aber sie müssen gut sein. Und natürlich lese ich auch Kinder- und Jugendbücher von meinen Kolleginnen und Kollegen. Da bin ich oft sehr beeindruckt. Wir haben ein Riesenglück in Deutschland, dass es hier so viele gute Kinder- und Jugendbuchautoren gibt.
Sie sind Jahrgang 1950. Wie gelingt es Ihnen, den richtigen Ton für junge Leute zu treffen, ohne sich anzubiedern. Jugend-Modewörter wie „smash“ oder „bodenlos“ verwenden Sie vermutlich nicht?
Ich bin da schon sehr vorsichtig. Aber man muss natürlich zwischen den Erzählpassagen und den Dialogen unterscheiden. Wenn junge Leute sich heute unterhalten, sagen die nicht „toll“ oder womöglich „knorke“, sondern sie sagen „nice“. So was kann man aufgreifen, aber ohne es zu übertreiben.
Wie schreiben Sie eigentlich Ihre Bücher: Morgens, abends, am Computer oder per Hand, im Sitzen oder Stehen?
(lacht) Seit 20 Jahren schreibe ich am Computer, weil es einfach so viel bequemer ist. Viele Kollegen sagen ja, sie brauchen den Stift in der Hand. Das habe ich auch lange gedacht, aber es geht besser am Laptop. Ich schreibe meist morgens früh nach dem Aufstehen um 7 Uhr. Etwa drei Stunden, mehr geht nicht. Zunächst lese ich die Texte der Vortage und schreibe dann im Schnitt zwischen drei und fünf Seiten, am liebsten daheim, aber nicht auf Lesereisen. Ich brauche Ruhe. Im Kaffeehaus könnte ich zum Beispiel nicht schreiben.
Mein persönlicher Liebling unter Ihren geistigen Kindern ist Juli. Er ist so alt wie meine Söhne und hat uns allen viel Spaß bereitet. Wie geht es Juli? Er ist jetzt ja auch erwachsen und hat vielleicht eigene Kinder. Werden wir von ihm mal wieder hören?
Juli hat bestimmt inzwischen eigene Kinder. Das passt einfach zu ihm. Aber ich weiß es nicht, denn Juli hat sich mir leider entzogen. Die Bücher sind von meiner Hamburger Kollegin Jutta Bauer ganz großartig illustriert worden. Wir hatten damals Anfang der 1990 Jahre beide Kinder in demselben Alter. Ich hätte auch gern weitergemacht, aber Jutta Bauer wollte dann leider nicht mehr. Mit einer anderen Illustratorin wollte ich die Serie dann aber auch nicht fortsetzen.
Hätten Sie nicht auch mal Lust, so einen richtig blutrünstigen Krimi zu schreiben? Oder tun Sie das womöglich schon unter Pseudonym?
(lacht) Richtig blutrünstig ist nicht so meins. Aber einen richtig guten Krimi würde ich schon ganz gern mal schreiben. Dann aber vermutlich schon unter Pseudonym. Aber ich habe noch so viele Ideen für Kinder- und Jugendbücher, die muss ich erst mal schreiben!
Zur Person
Kirsten Boie wurde am 19. März 1950 in Hamburg geboren. Sie studierte an der Universität Hamburg Deutsch und Englisch und schloss mit dem Staatsexamen ab, bevor sie in Literaturwissenschaft über die frühe Prosa von Bertolt Brecht promoviert wurde. Danach arbeitet sie als Lehrerin. Mitte der 1980er Jahre begann sie zu schreiben und hat seither über 100 Kinder- und Jugendbücher veröffentlicht. Sie hat zahlreiche Literaturpreise gewonnen, zuletzt in diesem Jahr den Deutschen Jugendliteraturpreis. Sie ist Ehrenbürgerin der Freien und Hansestadt Hamburg. Kirsten Boie ist verheiratet, Mutter zweier Kinder und lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Hamburg. Bei der Literaturaktion „Bad Hersfeld liest ein Buch“ steht ihr Buch „Heul doch nicht, du lebst ja noch“ im Mittelpunkt. Zum Abschluss der Aktion am 1. Dezember kommt Kirsten Boie nach Bad Hersfeld. kai