Operngala in der Stiftsruine erntet Applausstürme

Der Arbeitskreis für Musik richtete die bereits zweite Operngala in der Stiftsruine in Bad Hersfeld aus. Das Thema am Freitag war „Liebe und Intrige“.
Bad Hersfeld - Liebe und Intrige standen bei der zweiten Operngala, die der Arbeitskreis für Musik am Freitagabend in der Stiftsruine ausrichtete, im Mittelpunkt. „Madamina, il catalogo è questo“: Der Leser und Opernkenner ahnt schon, jetzt rechnet uns Leporello die Liste (catalogo) der Liebschaften seines Herrn Giovanni in der erweiterten EU vor: in Italien 640, in Deutschland 231, in Frankreich 100, in der Türkei 91, aber in Spanien 1003. Macht zusammen 2064. Mann-oh-Mann, wer könnte da mithalten! Und sogleich kommen die nächsten Damen hinzu, etwa die Jungbäuerin Zerlina, die (im Duett „Là ci darem la mano“) nicht abgeneigt ist, kurz vor ihrer Hochzeit von Don Giovanni sich „vernaschen“ zu lassen. Na gut!
Die beiden Glanznummern Mozarts gehörten zur Eingangssequenz der Bad Hersfelder Operngala 2022. Wir können hier aber auch mit Zahlen und Erfolgen aufwarten: In der Stiftsruine waren am Freitagabend sicherlich mehr als 1000 Personen (Künstler und Publikum) versammelt; 20 Programmnummern plus zwei Zugaben wurden spendiert, dazu Trinkbares, passend für Verdis Trinklied aus „La traviata“, und Blumen für die Solisten; vor allem jedoch lautstarke Applauswogen, die selbst am Ende der zweieinhalb Stunden nicht aufhören wollten.
Zur Sache: Der Arbeitskreis für Musik machte sich nach dreieinhalb Jahrzehnten eines kompletten sommerlichen Opernspielplanes viel, viel Mühe, nun wenigstens einen „bunten“ Opernabend auf die Bühne zu bringen. Der Erfolg gibt auch im zweiten Jahr dem Vorhaben recht. „Liebe und Intrige“ ist ein griffiges Motto, die Nummernfolge von Bizets „Carmen“ über Mozart, Händel, Smetana und Puccini als Stützpfeiler biis hin zu Verdi, Lehár und Johann Strauß („Ein Souper heut‘ uns winkt“ aus der „Fledermaus“ als Zugabe) erweist sich als klug und wirkungsvoll.
Operngala: Liebe und Intrige in der Stiftsruine
Am wichtigsten: Die Darbietung - konzertant, doch hier und da angereichert mit dezenten Gesten - ist über jedes Lob erhaben. Jeder der drei Vokalsolisten darf und kann punkten und prunken. Die Australierin und Wahl-Berlinerin Melinda Parsons tut das mit höhenleichtem, agilem, eloquentem Sopran als Händels Almirena („Lascia ch‘io pianga“), als Smetanas „verkaufte Braut“, als Puccinis Lauretta (natürlich „O mio babbino caro“) oder als Verdis Traviata etwas mehr denn als die stimmlich tiefer liegende Femme fatale Carmen. Mit vollmundig-saftiger wie elegant-charmanter Baritonstimme wartet Christoph Heinrich von der Bremer Oper auf - als Leporello und Don Giovanni ebenso wie als der Schurke Scarpia in Puccinis „Tosca“. Beide Sänger bringen übrigens aus früheren Jahren Hersfeld-Meriten mit.
Wenn der niederländische Tenor Arnold Bezuyen „Nessun dorma“ (Puccini) und „Dein ist mein ganzes Herz“ (Lehár) anstimmt, summen nicht wenige Damen im Publikum schon mit: ein Charaktertenor, wie er bei den Bayreuther Festspielen seit langem unentbehrlich ist (soeben wieder als Mime im „Ring“), der aber mittlerweile zum stattlichen „tenore lirico-spinto“ gereift ist mit substanzvoller Mittellage und glänzender, durchschlagender, quellreiner Höhe.
Und der Hersfelder Festspielchor? Seit Ewigkeiten eine Säule im Musikgeschehen, die sich freilich immer wieder verjüngt. Die gut 60 Mitglieder lassen sich gern herausfordern, sind aufgeschlossen für Ungewohntes, hier etwa für die Originalsprachen, darunter Tschechisch und Russisch, und beeindrucken mit edlem, ausgewogenem, sorgfältig durchgebildetem Chorklang. Nichts anderes gilt für die Virtuosi Brunenses, das erfahrene Orchesterkollektiv aus Brünn, mit seiner feinnervigen Streicher- und transparenten, solistisch betonten Bläserabteilung. Selten einen so herrlich sanft verklingenden Hornton in der Lenski-Arie aus Tschaikowskis „Onegin“-Oper erlebt.
Leidenschaftliche und tröstliche Musik in der Stiftsruine
Der Dirigent heißt jetzt Christof Becker, vornehmlich Kirchenmusiker (in Lich/Oberhessen) und von daher vielleicht dem strikten Tempo und Ausdruck zugeneigt. Im Ganzen aber ist eine umsichtige, souveräne Beherrschung der raschen Stückfolge zu hören. Als Moderator derartiger Ereignisse kennt man Loriot oder Max Raabe. Deren gedankenscharfen, hintersinnigen Auslassungen schließt sich hier Frederik Frank (Hannover), ebenso Musiktheoretiker wie -praktiker und sogar Mitsänger, an. Er vergisst nichts, schon gar nicht die verbale Nähe zu Publikum und Sponsoren.
„Von Herzen - möge es wieder zu Herzen gehen“, schrieb einst Beethoven über sein Gipfelwerk, die Missa solemnis op. 123. In dieser Operngala schwang das als heimliches Codewort mit. Den nicht geringsten Anteil daran hatte die Stiftsruine mit ihrem Ernst, ihrer Wucht, Erhabenheit und stimmungsvollen Ausleuchtung. In diesem Steingebirge durften sich mehr als tausend Menschen geborgen fühlen - zumal bei so leidenschaftlicher und abgründiger, tröstlicher und heiterer Musik. (Siegfried Weyh)